Katharina Wolf, Vorsitzende des Landesverbandes Sachsen der Europa-Union Deutschland, ausgezeichnet mit dem Preis „Frau Europas“ 2019
1. Was kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie an Europa denken?
Wenn ich von Europa spreche und damit das heutzutage in der Europäische Union geeinte Europa meine, wird mir immer wieder vorgehalten, das sei nicht Europa, denn die EU decke nicht das gesamte geografische Europa ab. Auf die Geografie reduziert, stimmt dies. Wenn ich aber von Europa spreche, dann denke ich daran, dass der in vielen Jahrhunderten beschriebene Sehnsuchtsort Europa heute Wirklichkeit ist. Seit über 70 Jahren besteht dieses Europa mit Institutionen und Mechanismen, um Konflikte friedlich zu lösen und auf Unvorhergesehenes mit neuen sinnvollen und befriedenden Lösungen zu regieren. Welch ein Gewinn für die Menschheitsgeschichte auf dem europäischen Kontinent! Das Ergebnis der Arbeit von Generationen macht mich demütig. Wir sollten das nicht kleinreden, nur, weil wir an vielen Ecken und Enden noch nicht im Paradies sind.
2. Welchen Ort in Dresden verbinden Sie mit Europa?
Als ich im letzten Jahr eine Stadtführung mit dem Titel „Wo finde ich Europa in Dresden, wo finde ich Dresden in Europa?“ konzipierte, wurde mir bewusst, wie stark die europäische Geschichte von Sachsen aus, durch Sachsen geprägt wurde. Schon bei der Brühlschen Terrasse, die den Beinamen „Balkon Europas“ trägt, gibt es unzählige Bezüge zu Europa. Gehen Sie mal wieder dort spazieren und schauen sich alle kleinen und größeren Denkmäler dort an!
Viele Menschen aus Sachsen oder in Sachsen wirkend haben ihren Anteil an der Idee eines gemeinsamen Europas. Eindrücklicher als einen Ort finde ich persönlich aber immer Personen selbst und ihre Lebensgeschichte. Auch hier gab und gibt es eine Vielzahl bemerkenswerter Menschen, die mich mit ihren Leistungen mit Europa verbinden. Dies möchte ich am Beispiel von eine paar Frauen illustrieren: die sich öffentlich politisch engagierende Constantia von Cosel, die „Neuberin“ mit der ersten festen Theaterkompagnie, die fahrradfahrende Frau des letzten sächsischen Königs Luise von Toskana, die Erfinderin des Kaffeefilter Melitta Bentz, die erste Ballonfahrerin Deutschlands mit wissenschaftlichem Ehrgeiz Wilhelmine Reichard, die Sammlerin moderner Kunst wie Klee, Kokoschka, Mondrian und Einrichterin der ersten öffentlichen Volksbibliothek Ida Bienert, die beiden Ikonen des modernen Tanzes Mary Wigman und Gret Palucca, oder auch die beiden Frauenrechtlerinnen Luise Otto Peters und Marie Stritt.
3. Wann haben Sie sich zuletzt als Europäerin gefühlt?
Als Europäerin fühle ich mich endlich wieder, seit die Corona-bedingt geschlossenen Grenzen ohne Kontrolle und Einschränkungen passierbar sind. In den letzten zwei Wochen konnte ich von Dresden zum Konzert nach Prag, zum Wandern nach Böhmen und zum Sightseeing nach Polen fahren. Als Juristin kann ich es verstehen kann, dass ein Staat eine Grenze braucht, um sein Hoheitsgebiet zu definieren, um mein Eigentum und meine Gesundheit schützen zu können. Als Mensch bin ich aber sehr froh, die regionalen Besonderheiten wieder genießen zu können und nicht mehr von den unmittelbaren Nachbarn, vom gutnachbarschaftlichen Dialog abgeschnitten zu sein.
4. Wonach schmeckt Europa?
Seit ich ein paar Jahre in der Hauptstadt Europas Brüssel leben und arbeiten durfte, habe ich eine Schwäche für belgische Pralinen entwickelt. Belgien ist aber – wie viele Regionen Europas – auch ein Land mit jahrhundertelanger Tradition im Brauen von Bier. Die europäische Bierbraukunst hat einen hohen Anspruch an die Qualität und eine breite Vielfalt im Geschmack. Europa schmeckt aber nicht nur nach Pralinen und Bier, sondern auch nach den vielen Käsesorten, den unterschiedlichsten Weinen, Brotsorten, Kohlgerichten, … Jetzt muss ich aufhören aufzuzählen, sonst läuft mir das Wasser im Munde zusammen.
5. Welche Musik verbinden Sie mit Europa?
Die Ode an die Freude von Friedrich Schiller eingebunden in die 9. Symphonie von Ludwig van Beethoven ist für mich das wichtigste mit Europa verbundene Stück Kultur. Denn es fordert auch heute noch alle dazu auf, mit Stolz und Freude auf Europa zu blicken und dies als Ansporn zu nehmen, sich weiter für ein friedliches, geeintes Europa zu engagieren, bestehende Baufehler zu korrigieren und es weiter zu entwickeln.
6. Wie sollte Europa in zehn Jahren aussehen?
In Legislaturperioden gedacht sind zehn Jahre sehr kurz; in dieser Zeit werden nur für einige wenige Grundfragen Lösungen gefunden werden können. Corona-bedingt ist allerdings auch erheblicher Schwung in eine Vielzahl von festgefahrenen Themen gekommen. Mit dem Vertrag von Lissabon haben wir der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie den Rang von europäischen Werten zugesprochen. Die aktuelle Diskussion hierzu zeigt mir jedoch deutlich, wie stark noch die jeweilige nationale Tradition, die nationale Rechtsschule oder auch die nationale Historie das Verständnis und den Inhalt beider Begriffe prägt. Ich bin guten Mutes, dass wir in den nächsten 10 Jahren ein gemeinsames europäisches Verständnis dieser beiden Begriffe finden werden. Unser Europa heute ist stark vom wirtschaftlichen Verständnis eines gemeinsamen Binnenmarktes geprägt. Ein gemeinsames europäisches Verständnis von Rechtsstaat und von Demokratie kann dem Binnenmarkt einen verfassungsrechtlichen Rahmen und damit eine „Seele“ geben. Ganz praktisch könnte dies neben dem hoffentlich gelingenden wirtschaftlichen Wiederaufbau z. B. zu verbesserten Systemen der Absicherung gegen Arbeitslosigkeit führen – und zwar in ganz Europa.