Landeshauptstadt Dresden - www.dresden.de

https://www.dresden.de/de/rathaus/aktuelles/pressemitteilungen/2012/02/pm_044.php 29.05.2015 02:51:44 Uhr 16.08.2024 05:41:10 Uhr

Rede des Ersten Bürgermeisters Dirk Hilbert zum Auftakt der Menschenkette am 13. Februar 2012

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Dresdnerinnen und Dresden,

Max Goldschmidt wurde im April 1929 in Dresden geboren und lebte mit seiner Familie in der Striesener Straße. 1942 müssen er, sein Bruder Alfred und die Eltern in dem „Judenlager Hellerberg" Zwangsarbeit leisten. Am 2. März 1943 wird die Familie nach Auschwitz deportiert. Niemand kann sagen, ob Max seinen 14. Geburtstag noch erlebt hat.

Gerda Baumann war fünf Jahre alt, als die Nationalsozialisten in Deutschland die Macht ergriffen. Sie lebte während des Krieges in der Annenstraße 35. Erst am 17. Februar, fünf Tage nach dem Luftangriff auf Dresden, wurde ihre Leiche entdeckt. Gerda wurde im Grab Nummer A VII 2 / 70 auf dem Heidefriedhof beigesetzt.

Am 1. Juli 2009 stirbt die Ägypterin Marwa el Sherbini in einem Saal des Dresdner Landgerichts durch zahlreiche Messerstiche. Sie lebte mit ihrer Familie in der Johannstadt, nur wenige hundert Meter vom Gericht entfernt. Frau el Sherbini war schwanger. Das ungeborene Kind konnte ohne seine Mutter nicht weiterleben. Es hat nie das Licht der Welt erblickt.

Drei Dresdner Kinder, drei Menschenleben in dieser Stadt. Was wäre aus Ihnen geworden, welchen Weg hätten sie eingeschlagen? Vielleicht wäre einer von Ihnen Arzt geworden, vielleicht Ingenieur oder Bäcker, vielleicht Krankenschwester, Rechtsanwältin oder Lehrerin. Es ist kaum zu ertragen darüber nachzudenken.

Ich bin in den vergangenen Wochen und Monaten von vielen Dresdnerinnen und Dresdnern gefragt worden: Warum verändert ihr das Gedenken am 13. Februar so sehr?

Warum reagiert ihr überhaupt auf diese Nazis, die unseren Tag missbrauchen? Warum können wir nicht nur in aller Stille gedenken?

Für mich geben die Schicksale dieser drei Dresdner Kinder eine eindeutige und unumstößliche Antwort. Die nationalsozialistische Ideologie, egal ob heute oder vor 80 Jahren, ist ein Weltbild voller Hass und Mord, voller Gewalt und Angst.

Diese Ideologie ist verantwortlich für den Tod von Millionen von Menschen. Sie ist verantwortlich für den Tod von Max, Gerda und dem ungeboren Kind von Marwa el Sherbini.

Wir gedenken am 13. Februar der Toten des Bombenangriffs auf Dresden. Aber wir dürfen dieses Gedenken nicht losgelöst betrachten, von dem was auf der Welt, was in unserer eigenen Stadt passiert ist und heute noch passiert.

Das Gedenken in Dresden zeichnet sich vor allem durch seine Vielfalt aus. In unserer Stadtgesellschaft hat das stille Gedenken, die tiefe Trauer um Angehörige und Freunde, genauso einen Platz, wie das klare Bekenntnis gegen Nationalsozialismus, Rassismus und Gewalt. Diese Vielfalt beruht auf einer klaren Maßgabe: Es gibt kein besseres Gedenken an die Opfer des Krieges, es gibt keinen schlechteren Protest gegen Rechtsradikalismus. Es gibt kein „gut" und kein „nicht ganz so gut". Es gibt nur die Maßgabe, dass das Gedenken gewaltfrei bleibt.

Meine Damen und Herren,

es gibt ein Dresden. Und unsere Stadt steht fest zusammen: Mit Mut, Respekt und Toleranz.

Und diese Gemeinsamkeit soll und muss uns weit über den 13. Februar hinaus tragen. Das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus und die Opfer des Krieges, nein aller Kriege, muss unser täglicher Begleiter sein. Denn nur dann können wir unser Zusammenleben in dieser Stadt, in diesem Land und in dieser Welt wirklich verändern.

Welchen Wert hat die heutige Menschenkette, wenn wir nicht jeden Tag aufs Neue den gewaltfreien Kampf gegen Nationalsozialismus, Rassismus und Fremdenhass aufnehmen?

Welchen Wert hat es heute oder am 18. Februar, Gesicht zu zeigen, wenn wir es nicht schaffen, unseren ausländischen Mitbürgern das Gefühl zu geben, Sie können hier eine Heimat finden?

Welchen Wert hat es, sich Jahr für Jahr an den 13. Februar 1945 zu erinnern, wenn wir nicht Tag für Tag Alltagsrassismus und Intoleranz in unserer Mitte bekämpfen?

Liebe Dresdnerinnen und Dresdner,

ich habe einen Sohn. Er wird in zwei Sprachen aufwachsen, zwei Kulturen werden ihn prägen. Sein Leben lang wird man ihm ansehen, dass er nicht nur eine Heimat hat.

Was, wenn er eines Tages zu mir kommt und sagt: „In deinem Land will ich nicht mehr leben? In deiner Stadt fühle ich mich nicht willkommen"?

Dann habe ich versagt. Noch schlimmer: Dann haben wir alle versagt.

Wenn wir uns gleich für vielleicht zehn Minuten die Hände reichen werden, dann kann diese Einigkeit und diese Innigkeit nur ein Symbol sein. Ein Symbol, dass wir uns unserer Verantwortung für das Gestern, das Heute und für das Morgen bewusst sind. Wir müssen uns aber über eins bewusst sein: Für Max, Gerda und das Kind von Frau El Sherbini kommt dieses Zeichen, kommt unsere Einigkeit zu spät. Keine Menschenkette, keine Kundgebung und auch keine Blockade werden verhindern, dass der Nationalsozialismus weitere Menschenleben in unserem Land fordert.

Nur wir können dies verhindern. Jeder von uns. Tag für Tag. Dort wo wir stehen, wo wir arbeiten und wo wir leben. Und lassen Sie uns dieses wirksame und starke Zeichen der Menschenkette jetzt gemeinsam setzen. Wir sind nicht alleine!

Vielen Dank!

Dirk Hilbert
Erster Bürgermeister
der Landeshauptstadt Dresden

Landeshauptstadt Dresden

Presse- und Öffentlichkeitsarbeit

Telefon +49(0351) 4882390
Fax +49(0351) 4882238
E-Mail E-Mail


Postanschrift

PF 12 00 20
01001 Dresden