Interview mit Dr. Thomas Brockow
Selbsthilfegruppen vorgestellt (1)
„Stotternde sagen’s auf ihre Weise“
Dr. Thomas Brockow arbeitet aktiv im Landesverband Ost „Stottern und Selbsthilfe“ mit
Wenn man sich mit Fragen, Sorgen, einem Problem oder Anliegen allein gelassen fühlt und sich gern mit anderen Menschen austauschen möchte, denen es ähnlich geht, dann könnte eine Selbsthilfegruppe genau das Richtige sein. Es gibt in der Landeshauptstadt eine große Vielfalt in der Selbsthilfe. Viele Gruppen treffen sich zu Themen aus den Bereichen chronische Erkrankungen, psychische Belastungen oder Süchte. Aber auch Trauer, Missbrauch, Essstörungen, Mobbing oder soziale Themen können in Selbsthilfegruppen bearbeitet werden.
Einige davon stellen sich in den nächsten Amtsblatt-Ausgaben den Fragen der Redaktion. Den Beginn macht Dr. Thomas Brockow, der Sprechstunden rund um das Thema Stottern und Selbsthilfe anbietet.
Was ist Stottern?
Stottern ist eine Sprechbehinderung, die sich im Wiederholen von Wörtern, Silben und Lauten sowie in Blockaden äußert. Im Moment des Stotterns wissen Stotternde genau, was sie sagen möchten, sind aber nicht in der Lage, es störungsfrei herauszubringen. Sie verlieren die Kontrolle über den Sprechapparat. Häufig ist Stottern mit einer übermäßigen Anstrengung beim Sprechen verbunden.
Wie sprechen Sie mit Ihren Mitmenschen?
Es wird Sie erstaunen, ich spreche mit meinen Mitmenschen in verschiedenen Sprechvarianten. Es besteht ein hoher Konsens unter Stotter- und Verhaltenstherapeuten, dass es für Stotterer am besten ist, wenn sie ihr Stottern offen zeigen. Ziel ist ein anstrengungsfreies Stottern. Dieses heere Behandlungsziel ist jedoch nicht immer umsetzbar.
Wir Stotterer müssen, wenn wir einmal unerwartet schwer stottern, von unserer Umwelt verstanden werden. Und wir kaufen uns in sozialen Bewertungssituationen möglicherweise Nachteile ein, wenn wir frei drauf los stottern, zum Beispiel in Vorstellungsgesprächen oder Diskussionen vor fremdem Publikum. Ich persönlich bin deshalb zum Schluss gekommen, in Gesprächen, die sehr mit persönlichen oder beruflichen Bewertungen verknüpft sind, auf verschiedene Sprechtechniken zurückzugreifen, wie langsames Stottern, weiche Stimmeinsätze oder verzögertes Sprechen.
Sie haben beruflich viel mit Menschen und Kommunikation zu tun. Ist da Stottern nicht eher ein Hindernis?
Stottern kann, aber braucht kein Hindernis für einen sprechenden Beruf sein. Es liegt viel an der eigenen inneren Einstellung, aber auch am familiären, schulischen oder beruflichen Umfeld. Bei mir ging als junger Stotterer so Einiges schief. Spezifische Stottertherapien standen nicht zur Verfügung und meine Lehrer waren im Umgang mit Stotterern nicht geschult. Erst mit zunehmender fachlicher und personlicher Reife nahmen meine Sprechängste ab und mein Sprechen wurde flüssiger.
Im klinischen Alltag als Arzt war die Sprechbehinderung in der Regel kein Hindernis. Die Mehrzahl der Patienten zeigten dafür Verständnis. Im beruflichen oder politischen Weiterkommen gibt es jedoch klare Grenzen für Stotterer. Ein stotternder Arzt erhält in Deutschland im Idealfall eine Professur in einem klinischen Fach, die Letztverantwortung wird ihm aber nicht übertragen. Und in der Politik? Hier dürfte der Politiker Malte Spitz als schwerer Stotterer eine Ausnahmeerscheinung sein. Er hat wie die meisten Stotterer lernen müssen, dass das Stottern zu ihm gehört ‚wie sein Name an der Tür‘.
Und natürlich beeinflusst Stottern die berufliche bzw. politische Arbeit und zwar umso stärker, je mehr man in der Öffentlichkeit steht. Und so beeinflusst auch mein Stottern meinen beruflichen Alltag, mal weniger, mal mehr. Man braucht dazu viel Stärke, Mut und auch Unterstützung von außen.
Was raten Sie Menschen, die stottern?
Ich rate jedem Stotterer dazu, sich erst einmal professionelle Hilfe einzuholen. Eine ausgezeichnete Erstberatung zu seriösen Therapieangeboten erhält man bei der Bundesvereinigung Stottern & Selbsthilfe e. V. (BVSS) oder im Sprechraum in Berlin-Charlottenburg. Erwartungen, dass man die Sprechbehinderung wegtherapieren könne, werden hier nicht geweckt. Denn die „Pille gegen Stottern“ gibt es schlichtweg nicht.
Einen leicht verständlichen Überblick für Betroffene und ihre Angehörige mit wissenschaftlich gesicherten Informationen, was Stottern ist, wie es erkannt und behandelt werden kann, gibt die Patientenleitlinie ‚Stottern und Poltern‘ der Arbeitsgemeinschaft medizinischer Fachgesellschaften.
Wie geht es nach der Therapie weiter?
Manche Therapeuten bieten für die Zeit nach der Therapie jährliche Auffrischseminare oder turnusmäßige Videokonferenzen an. Ein anderer Weg ist, sich als Stotterin oder Stotterer mit anderen stotternden Menschen zu einer Selbsthilfegruppe zusammenzuschließen.
In Dresden existierte bislang keine stotterspezifische Selbsthilfegruppe. Jetzt arbeiten Aktive daran, zum einen eine Selbsthilfegruppe für junge Stotternde in Kooperation mit der bundesweiten Flowgruppe, zum andern eine generationsübergreifende Selbsthilfegruppe für Jung und Alt zu gründen.
Wer Lust hat mitzumachen oder sich erst einmal genauer über die Gruppen informieren möchte, wendet sich am besten an die städtische Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfegruppen (KISS).
Was ist das BVSS?
BVSS steht für Bundesvereinigung Stottern & Selbsthilfe e. V. und ist ein Interessenverbund stotternder Menschen in Deutschland. Die BVSS wird durch sieben Landesverbände unterstützt. Für Sachsen ist der Landesverband Ost zuständig. Dr. Brockow ist Ansprechpartner des Landesverbandes Ost für Sachsen und bietet in der KISS eine Sprechstunde rund um das Thema Stottern und Selbsthilfe an.
Januar 2020