-Es gilt das gesprochene Wort.-
Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Dresdnerinnen und Dresdner,
ich danke Ihnen von Herzen, dass Sie so zahlreich hier an das Neue Rathaus gekommen sind. Bereits zum 14. Mal werden wir uns in wenigen Minuten die Hände reichen und gemeinsam die Menschenkette bilden.
Aber gestatten Sie mir vorher über eine einfache Frage zu sprechen: Warum sind wir hier?
Ich finde diese Frage durchaus berechtigt. Der verheerende Luftangriff auf Dresden jährt sich nun mittlerweile zum 79. Mal. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten geschah vor 91 Jahren. Die Zeitzeugen, die bewusst erlebt haben, wie sich der Schrecken in Deutschland ausgebreitet hat, wie der Krieg Millionen ins Unglück stürzte, diese Zeitzeugen sind kaum noch unter uns. Gleichzeitig verschwinden die Spuren, die der Krieg hinterlassen hat mit jedem Jahr immer mehr. Warum also sind wir hier?
Ist es eine Tradition geworden? Organisieren wir die Menschenkette, weil wir als Stadtgesellschaft ein Ritual brauchen um uns zu erinnern? Ich will es ganz deutlich sagen: Wenn Tradition die Antwort auf das „Warum“ sein sollte, dann können wir jetzt gleich nach Hause gehen. Dann hat die Menschenkette, dann hat unsere gesamte Erinnerungskultur am 13. Februar keinen Wert.
Liebe Dresdnerinnen und Dresden,
ich möchte Ihnen gerne sagen, warum ich heute hier bin.
Der Grund liegt sogar noch vor dem Jahr 1933. Am 6. November 1932 erhielt die NSDAP bei den Reichstagswahlen im Wahlkreis Dresden-Bautzen fast 37 Prozent der Stimmen. Nur wenige Monate zuvor, waren es sogar 41 Prozent gewesen. Mehr als ein Drittel aller Wahlberechtigten in der Region stimmten ohne Zwang für die Partei Adolf Hitlers.
In unseren Büchern und unseren Köpfen unterteilen wir die Geschichte in Häppchen. 1871 bis 1918 Deutsches Kaiserreich; 1914 bis 1918 Erster Weltkrieg; 1918 bis 1932 Weimarer Republik; 1933 bis 1945 Nationalsozialismus. Was wir dabei vergessen ist, dass Geschichte so nicht funktioniert. All diese Ereignisse und Epochen kamen nicht von heute auf morgen. Sie waren das Ergebnis von Entwicklungen und Prozessen in Staat und Gesellschaft. Und so ist es bis heute.
Die Wahrheit ist: Die nationalsozialistische Terrorherrschaft ab 1933 war kein Zufallsprodukt. Der Nationalsozialismus wurde bei freien und demokratischen Wahlen von einem großen Teil der Bevölkerung eingeladen zur stärksten politischen Kraft zu werden. Alles was darauf folgte hatte seinen Ursprung in einer demokratischen Abstimmung: die Machtergreifung Hitlers, die Verfolgung anderer Parteien, die Pogrome gegen Menschen jüdischen Glauben, der Holocaust, der Kriegsbeginn 1939, der Luftkrieg und letztendlich der Angriff auf deutsche Städte, der Angriff auf Dresden am 13. Februar 1945.
Die Wahrheit ist: Die Demokratie als reine Staatsform ist kein Garant dafür, Diktaturen oder Unrechtsregime zu verhindern. Dies hat die Geschichte leider gezeigt und wir können es auch heute weltweit beobachten.
Wenn wir heute davon sprechen, dass wir als Demokraten gemeinsam gegen die Populisten einstehen müssen, dann sollten wir uns einer Tatsache bewusst sein: In beiden Begriffen steckt das Wort „Volk“. Griechisch demos und lateinisch populus. Aber unsere Demokratie ist mehr als die „Herrschaft des Volkes“. Das Fundament unserer politischen Ordnung sind die Menschen- und Bürgerrechte.
Der erste Artikel des Grundgesetzes definiert nicht, in welcher Staatsform wir leben. Der erste Artikel erhebt die Menschenrechte zu Grundlage unseres Zusammenlebens. Oft denken wir beim ersten Artikel ausschließlich an die Unantastbarkeit der Menschenwürde. Dabei ist der zweite Absatz mindestens genauso wichtig:
Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.
Deshalb stehen wir heute hier!
Wir stehen hier, weil die Erinnerung an die Opfer der nationalsozialistischen Herrschaft und die Opfer des Krieges untrennbar mit der Geschichte unserer Stadt verbunden ist. Die Menschenkette schließt sich um die Innenstadt von Dresden, damit diese Erinnerung nicht instrumentalisiert und von alten wie neuen Nationalisten umgedeutet wird.
Wir stehen hier, weil es immer mehr politische Extremisten in unserem Land gibt, die unsere demokratische Verfassung in Frage stellen. Rassismus und menschenverachtende Weltbilder nehmen in unserer Gesellschaft zu. Antisemitismus wird wieder offen zur Schau gestellt. Auch in unserer Stadt werden Häuser in Brand gesteckt um zu verhindern, dass dort Menschen einziehen, die ein Recht auf ein gerechtes Asylverfahren haben. Auch bei uns gibt es gewalttätige Übergriffe und Rassismus im täglichen Leben.
Wir stehen aber auch hier, weil in den vergangenen Wochen in unserem Land hunderttausende Menschen auf die Straße gegangen sind, um für unsere Demokratie zu demonstrieren. Auch hier in Dresden. Diese Demonstrationen haben eine weit größere Bedeutung, als der normale politische Wettstreit verschiedener Parteien oder Ideologien. Es geht um die Verteidigung der Menschenrechte als Grundlage für unser Zusammenleben. Deshalb bin ich der festen Überzeugung: Wir können und dürfen die Menschenkette als Teil dieser Bewegung betrachten.
Liebe Dresdnerinnen und Dresdner
aber eines muss uns klar sein – viel mehr noch - es muss die Lehre aus dem Jahr 1932 sein: Die Zukunft unserer Demokratie entscheidet sich nicht bei Demonstrationen und auch nicht hier am 13. Februar bei der Menschenkette. Die Zukunft unserer Demokratie entscheidet sich an der Wahlurne. Wir haben es selbst in der Hand wer Macht erhält und wer sie entzogen bekommt. In diesem Jahr werden wir gerade in Dresden und im Freistaat Sachsen richtungsweisende Wahlen abhalten. Dabei geht es um mehr, als nur um die Mehrheitsverhältnisse in den Parlamenten und Räten. Es geht auch darum, ein klares Zeichen zu setzen: Für unsere Demokratie und für die Menschenrechte.
Vielen Dank