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https://www.dresden.de/de/kultur/kulturfoerderung/kulturpreise/lyrikpreis-dd.php 04.11.2024 10:47:33 Uhr 22.11.2024 16:35:38 Uhr

Dresdner Lyrikpreis

Die Landeshauptstadt stiftet seit 1996 alle zwei Jahre den deutsch-tschechischen Dresdner Lyrikpreis. Er wird an in Mitgliedstaaten der Europäischen Union lebende Dichterinnen und Dichter, die in deutscher oder tschechischer Sprache schreiben und deren Gedichte einem hohen künstlerischen Anspruch gerecht werden, verliehen.

Der 15. Dresdner Lyrikpreis geht an Petr Borkovec sowie Georg Leß

Den 15. Lyrikpreis der Landeshauptstadt Dresden erhielten 2024 der tschechische Dichter Petr Borkovec und der deutsche Dichter Georg Leß. Die Auszeichnung ist mit insgesamt 15.000 Euro dotiert. Kamil Bouška erhielt den Publikumspreis, der von der Euroregion Elbe/Labe gestiftet wird. Die Verleihung fand am Sonntag, 3. November, im Festspielhaus Hellerau in Dresden statt.

Die für den Dresdner Lyrikpreis getroffene Auswahl von Petr Borkovec‘ Gedichten zeichnet sich auf den ersten Blick durch ihr deskriptives Herangehen aus:

Am Anfang steht eine Beschreibung der Wirklichkeit, eine Darstellung der physischen Welt, die in ihrer Intensität fast hyperrealistische Züge annimmt. Borkovec nimmt scheinbar kühl und distanziert die Welt der Dinge, Menschen, Tiere oder auch „nur“ eines Gemüses wahr, beobachtet alles genau, wobei er freilich auf raffinierte Weise nicht nur den Beobachter, sondern auch sich selbst verunsichert. Das beherrscht Borkovec wie kaum ein anderer.

Die Darstellung der Wirklichkeit ist bei ihm gleichzeitig eine intensive Hinwendung zur sprachlichen Welt: Die Gedichte des Autors arbeiten mit allen sprachlichen Elementen und Mitteln – angefangen vom Laut über das Wort bis hin zum Stil – und weisen reichhaltige rhythmische, ja sprachmelodische Züge sowie Präzision auf allen Ebenen auf. Es sind Kompositionen, die sprachliche Meisterschaft und einen außergewöhnlich scharfen Blick verraten. Durch ihre Komplexität sind diese Gedichte nur schwer übersetzbar.

Bei aller Raffinesse seiner schöpferischen Verfahren haben die Texte des Autors eine einzigartige Leichtigkeit, alles geschieht wie nebenbei, oft mit einem Hauch von Groteske oder Witz. Die Distanz des Beobachters aktiviert indessen die Sinne und den Intellekt des Wahrnehmenden, sodass in den Bildern Ernsthaftigkeit, Bitterkeit, Tragik pulsieren. Gerade dieses Paradoxon, diese Spannung zwischen Distanz und absoluter Nähe, macht Borkovec‘ Lyrik unverwechselbar und außerordentlich stark. Wir haben es hier mit Klugheit, technischer Meisterschaft und der Gabe der hohen Dichtkunst zu tun.

Laudatio auf Petr Borkovec

"mitten in Betten ohne Wärme, dass die Daunen stieben
speckige Meteoriten, vom Höchsten abgesprengt
das ganze Geschwader durchs Möbelhausdach!"

Vom Himmel fallen die Hungerputten und landen in einem Möbelhaus. Einmal auf der Erde, müssen sie sich alltäglichen Aufgaben widmen: wo kommt eine Putte unter, woher bezieht sie ihr Einkommen, wie soll sie ihre bislang kannibalistische Ernährungsweise kompensieren?

"selbst wenn die Menschen nicht schmecken wie wir: wir müssen /
weniger Puttenfleisch essen"

Man merkt: Georg Leß ist Liebhaber von Horrorfilmen. In seinen Gedichten arbeitet er mit Material und Motiven aus diesem Genre und macht sie poetisch produktiv. Dabei betreibt er eine Strategie der Verblüffung: Mit großer Kühnheit versetzt er Wörter und Bedeutungen in das beinahe grausame Märchen unzuverlässiger Wahrnehmung. Motive überlagern sich; nichts ist, was es auf den ersten Blick zu sein scheint. In seinen Texten sorgen kalkulierte Brüche immer wieder für Unruhe, daraus entwickelt sich auch ihr ganz eigener Humor:

"in Zukunft werd ich Teil, werde ich Großteil sein und nehmen, randvoll
mit Spenderorganen, die Fülle verwalten
durchs Prämiensystem vom Roten Kreuz ein Schneidebrettchen erhalten"

An anderen Stellen hingegen stehen innige Ansprachen und existentielle Fragen, die ganz lakonisch daherkommen, jedoch oftmals unbeantwortet bleiben:

unsere Wünsche ziehen durch den Stein
wir splittern ohne Not, wir kaufen füreinander ein
und nehmen irgendwo, dort wird es leicht, die letzten Summen her

Georg Leß gilt als eine der eigenwilligsten Stimmen seiner Generation. In jedem seiner Bücher - darunter die Gedichtbände "Schlachtgewicht" (2013), "Hohlhandmusikalität" (2019) und "Die Nacht der Hungerputten" (2023) - überrascht er uns in neuer Weise. "Mit jeder Silbe / ein anderer werden" heißt es einmal, und das gelingt dem Dichter Georg Leß.

Laudatio auf Georg Leß